Philosemitismus

Das Problem der "bedingungslosen" Unterstützung Israels 

Deutschlands Jüdinnen und Juden haben seit dem 07. Oktober vermehrt mit Anfeindungen zu kämpfen: eine zutiefst beschämende Tatsache, hat das Land doch alles darangesetzt, seine faschistische Vergangenheit aufzuarbeiten und den Anti-Antisemitismus und die bedingungslose Unterstützung Israels zur Staatsräson zu machen. Letzteres ist für einige eben das Problem: die "bedingungslose" Unterstützung des Staates Israel.

Einigen jüdischen Mitbürgern geht es nicht um das vielerorts beklagte Fehlen der Empathie angesichts der zu verurteilenden Attacken vom 07. Oktober. In einem offenen Brief beschrieben mehr als hundert in Deutschland lebende jüdische Schriftsteller, Journalisten, Wissenschaftler und Künstler ein politisches Klima, in dem jede Form des Mitleids mit palästinensischen Zivilisten mit der Unterstützung von Hamas-Terroristen gleichgesetzt wird. Die Folgen sind Verstöße gegen die Bürgerrechte und das Canceln ­kultureller Veranstaltungen und die Gefährdung des demokratischen Rechts auf Dissens.
Dass Deutschland hier einen paternalistischen Philosemitismus praktiziert, indem es meint, andersdenkende Juden belehren zu müssen über ihr Jüdisch sein und über die einzige korrekte Haltung in diesem Krieg, wirkt besonders absurd, wenn es jüdische Mitbürger sind, die diese unbequeme Beobachtung aussprechen müssen. Kritik am Staat Israel wird schnell mit Antisemitismus gleichgesetzt; statt vernünftiger Argumente findet man eine Kultur des Vermeidens, ein synchronisiert wirkendes Schweigen. Eine Methode die in den letzten Jahre nur zu gut funktioniert hat.

Deutschlands bedingungslose Unterstützung des Staates Israels halte das Land davon ab, „das Töten von Zivilisten in Gaza zu verurteilen, während es sich erlaubt, die Bedrohung anders denkender Juden zu ignorieren, in Deutschland wie auch in Israel“, wie die deutsch-amerikanische Autorin Deborah Feldman schreibt. Viele der Menschen, die am 07. Oktober ermordet wurden, hatten sich einer friedlichen Lösung des Nahostkonflikts verpflichtet. Doch sie seien, so Feldman, zugunsten der radikalen Siedler in der West Bank nicht geschützt worden: „Für viele liberale Israelis ist das Versprechen des Staats, Sicherheit für alle Juden zu gewährleisten, entlarvt worden als selektiv und an Bedingungen geknüpft“.
Die Lage ist aufgeheizt, doch es müsste möglich sein, einige Tatsachen gleichzeitig denken und aussprechen zu dürfen: das Recht Israels, sich zu verteidigen; dass nach Angaben des der Hamas unterstehenden Gesundheitsministeriums in Gaza bereits über 15.000 Zivilisten getötet worden seien; die von der von Hamas verübten Angriffe und Endführungen; die Vertreibung von knapp zwei Millionen Menschen und die Zerstörung ihrer Häuser und Städte. Stattdessen wird in Gut und Böse, Schwarz und Weiß argumentiert.

Das Verhältnis Deutschlands zu seiner Vergangenheit ist „kompliziert“, heißt es: es gibt auch ein Trauma des Täters, das in einem langen, schmerzhaften Prozess aufgearbeitet werden muss. 
Über die letzte documenta-Ausstellung und die propalästinensische BDS-Kampagne, die von einem Bundestagsbeschluss 2019 als antisemitisch eingestuft wurde, weil sie die Existenz Israels in Frage stelle, wurde heftig debattiert, doch man sucht vergeblich nach einer öffentlichen Diskussion, die sich mit der konkreten Realität Israels oder mit der Zukunft seiner Bewohner auseinandersetzt.
Deutschland, so Feldman, fetischisiere das Jüdisch sein; tatsächlich kann dem Land eine zwanghafte Beziehung zur eigenen Vergangenheit attestiert werden: Ein immer noch nicht verarbeitetes Ressentiment wird auf Randgruppen projiziert und die muslimischen Mitbürger beispielsweise für den wachsenden Antisemitismus verantwortlich gemacht. Doch die Statistiken belegen, dass Judenhass kein reiner Import ist.
Unlängst schrieb der preisgekrönte israelische Journalist Haggai Matar, die einzige Möglichkeit, die Palästinenser daran zu hindern, sich gegen ihre Unterdrücker aufzubegehren, bestehe darin, die Unterdrückung und die Verweigerung ihrer Rechte zu beenden. „Es wird Gerechtigkeit, Sicherheit und eine lebenswürdige Zukunft für uns alle geben oder für keinen von uns“. Es wird zunehmend klar, gerade unter Israelis, dass es keine „Ausrottung“ von Terror geben kann, wenn die Ursachen dieses Terrors nicht beseitigt werden.

„Wer sich für unschuldige Kinder in Flüchtlingslagern einsetzt, wer sich einbringt für universelle Menschenrechte und damit für die Lehren, die aus dem Zweiten Weltkrieg gezogen werden mussten, der ist kein Antisemit. Jede andere Behauptung ist Gaslighting“, so Feldman. In ­Haaretz warnt die israelische Journalistin Amira Hass davor, einem verwundeten, verletzten Israel einen „Blankoscheck [zu] geben, zum hemmungslosen Töten, Zerstören und Pulverisieren“.
Vielleicht kann Deutschland im Laufe dieser Tragödie erkennen, dass seine Verantwortung aus dem Holocaust – die größte Lehre seiner entsetzlichen Geschichte – darin besteht, den Mechanismen der Dehumanisierung, der Diskriminierung und der Gewalt gegenüber allen marginalisierten Gruppen entgegenzuwirken, wo immer sie praktiziert werden.
Dass ein Vizekanzler mit einer jungen Schriftstellerin im Fernsehen diskutiert, bei Markus Lanz mit Deborah Feldman – das Äquivalent in den USA wäre in etwa Kamala Harris, die mit Ta-Nehisi Coates debattieren würde, eine angesichts der hermetischen Kreise der Macht nahezu unmögliche Vorstellung –, lässt hoffen.

von ASKL