Eine Aufarbeitung des Antistalinismus
Man stelle sich einmal vor, Stalin hätte mit seiner Entourage in nur einem Jahrzehnt die Sowjetunion aus dem Mittelalter in die Neuzeit navigiert, anschließend die Wehrmacht vernichtend geschlagen und im Anschluss daran das Land binnen fünf Jahren wieder auf Vorkriegsniveau gebracht – und das Ganze ohne eine „Unzahl“ von Opfern, die natürlich ein riesiges Ausmaß annehmen muss, damit auch der skrupelloseste Genosse, moralisch bis ins Mark erschüttert, niemals mehr aus der Frage entlassen wird: „War es die Sache wert?“
Bevor die aufgedeckten statistischen Daten genauer betrachtet werden, sei zunächst ein kurzer Blick auf die Entstehungsgeschichte des Antistalinismus beziehungsweise Antikommunismus geworfen. Wie bereits 1925 in Hitlers „Mein Kampf“ angekündigt, galt die Ukraine als die „Kornkammer“ für das „Volk ohne Raum“ und damit als eines der wichtigsten Kriegsziele des deutschen Faschismus im Osten. Um den kriegerischen Feldzug propagandistisch vorzubereiten, startete Goebbels eine Hetzkampagne gegen die Bolschewiken der Ukraine, die angeblich ihr Volk einer bewusst von Stalin provozierten Hungerkatastrophe auslieferten. Die faschistische OUN unter Federführung von Stepan Bandera waren dabei nützliche Handlanger des NS-Regimes. Die Kampagnen erwiesen sich allerdings als allzu durchsichtig im Hinblick auf die dahinter stehenden faschistischen Kriegsziele. Auch einige britische und US-amerikanische Autoren oder Unternehmer wie Conquest oder Hearst verbreiteten bereitwillig diese Antikommunistische Propaganda, wodurch im Westen ein grundsätzlich negatives Bild des Kommunismus, der UdSSR und des Generalissimus Stalins gezeichnet und etabliert wurde.
Mario Sousa weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass keiner der beteiligten Forscher dem sozialistischen Lager zuzurechnen ist, es sich vielmehr um bürgerliche, zum Teil offen reaktionäre Historiker handelt – mit dem entscheidenden Unterschied allerdings, dass diese ihre wissenschaftliche Integrität über jede ideologische Befangenheit stellen, soll heißen keine Datenfälschung im Interesse ihrer ideologischen Orientierung beziehungsweise ihres Geldbeutels betreiben. So geben die Daten Auskunft zu den folgenden Fragestellungen:
-Bestandteile des sowjetischen Strafsystems-Anzahl der politischen und nicht-politischen Gefangenen-Anzahl der Todesopfer in den Arbeitslagern-Anzahl der Todesurteile vor 1953, insbesondere in den Säuberungen der Jahre 1937-38-durchschnittliche Dauer der Gefängnisstrafen
Der britische Autor Robert Conquest behauptet, die Bolschewisten hätten zwölf Millionen politische Gefangene in den Arbeitslagern zwischen 1930 und 1953 getötet. Davon sei eine Million bei den Säuberungen 1937 und 1938 umgekommen. Solschenizyn spricht gar von zig Millionen Toten in den Arbeitslagern, davon drei Millionen allein 1937/38. Diese Zahl wurde im Zuge der „Wer bietet mehr?“-Kampagne unter Gorbatschow noch weit übertroffen. So nennt die Russin Olga Schatunowskaja etwa sieben Millionen Tote während der 1937/38 Säuberungen. Die Daten aus diversen Archiven sprechen hingegen eine andere Sprache: Man muss dabei berücksichtigen, dass die Forscher sich verschiedener Quellen bedienten und diese miteinander abglichen. Dabei sind Doppelzählungen sehr wahrscheinlich. So wurden beispielsweise nach Dimitrij Wolkogonow, der von Jelzin als Verantwortlicher für die Sowjetarchive ausersehen, 30.514 Personen bei Militärtribunalen in den Jahren vom 01.10.1936 bis 30.09.1938 zum Tode verurteilt. Eine andere Zahl stammt vom KGB: Nach Informationen, die im Februar 1990 der Presse freigegeben wurden, sind in den 23 Jahren zwischen 1930 und 1953 786.098 Menschen wegen Verbrechen gegen die Revolution zum Tode verurteilt worden, davon 681.692 in den Jahren 1937 und 1938. Diese Zahlen bedürfen allerdings noch der genaueren Überprüfung. Nach den vorliegenden Daten aus den Archiven schätzt Mario Sousa die Zahl der tatsächlich vollstreckten Todesurteile 1937-38 auf ca. 100.000. Viele Todesurteile seien in Haftstrafen umgewandelt worden beziehungsweise basierten auf Verbrechen wie Mord oder Vergewaltigung. Schließlich bleibt noch die Frage nach der durchschnittlichen Dauer der Strafe in einem Arbeitslager. Die antikommunistischen Propagandisten erwecken den Eindruck, dass ein Strafgefangener normalerweise das Arbeitslager nicht überlebte oder endlos lange gefangen gehalten wurde. Es zeigt sich jedoch, dass die Strafzeit in der Stalinzeit für den größten Teil der Gefangenen maximal 5 Jahre betrug. So erhielten nach der American Historical Review 82,4% der gewöhnlichen Kriminellen im Jahre 1936 Haftstrafen von bis zu 5 Jahren und 17,6% zwischen 5 und 10 Jahren. Von den politischen Gefangenen erhielten 44,2% Haftstrafen bis zu 5 Jahren und 50,7% zwischen 5 und 10 Jahren. Für 1939 liegen von sowjetischen Gerichten folgende Zahlen vor: 95,9% bis zu 5 Jahre, 4% zwischen 5 und 10 Jahre und 0,1% über 10 Jahre.